Die ALS-Ambulanz der Charité war auf dem Internationalen ALS-Symposium in Boston (USA) vom 8. bis 10. Dezember 2017 stark vertreten: mit einem Vortrag zum Thema Plattform-Medizin (technologische Unterstützung von Menschen mit ALS), einem Poster zur Grundlagenforschung bei der ALS (pathologische Zusammenballung der Proteine TDP-43 in einem experimentellen Modell) und drei Postern zur klinischen Forschung (Bedeutung von Physio- und Ergotherapie sowie Logopädie bei der ALS; Analyse und Optimierung der Beatmungs- und Ernährungsversorgung bei der ALS).
Das internationale ALS-Symposium findet jährlich in unterschiedlichen Ländern auf verschiedenen Kontinenten statt und stellt die wichtigste Austauschplattform für Wissenschaftler, Ärzte, Patienten, Angehörige, ALS-Organisationen sowie forschende Arzneimittel- und Medizintechnikunternehmen dar. Über mehrere Tage finden Parallelveranstaltungen in mehreren Hörsälen statt, in denen Grundlagen wissenschaftlicher („Basic Science Sessions“) oder medizinischer Themen („Clinical Sessions“) in Vorträgen präsentiert und diskutiert werden.
Im Folgenden werden Ergebnisse von Vorträgen, Postern, Diskussionen und Gesprächen zusammengefasst, die auf dem diesjährigen Kongress eine besondere Relevanz aufwiesen.
Edaravone-Therapie
Die aktuelle Studienlage zur Edaravone-Behandlung wurde in verschiedenen Vorträgen thematisiert. Nach der derzeitigen Studienlage ist unverändert davon auszugehen, dass dieses Medikament für eine definierte Untergruppe von Menschen mit ALS geeignet ist. Die Erfahrungen der bisherigen Edaravone-Behandlung aus den USA wurden aus formalen Gründen leider nicht breiterer Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Vorträge wurden von US-Amerikanischen Neurologen gehalten und ausschließlich für Ärzte mit einer US-amerikanischen Approbation zugänglich gemacht. Diese restriktive Informationspolitik wird von den staatlichen Arzneimittelbehörden in den USA und Europa verfügt, um die unterschiedlichen formalen Vorgaben in der Arzneimittelbehandlung von Ärzten in den USA und Europa durchzusetzen. So soll verhindert werden, dass Ergebnispräsentationen (von Edaravone) in den USA einen „werbenden“ Charakter für Patienten und Ärzte entstehen lassen, obwohl in Europa das Medikament noch keine Zulassung erfahren hat. Daher ist die Berichterstattung zu den praktischen Erfahrungen mit Edaravone (Radicava) in den USA sehr begrenzt. Das Arzneimittelunternehmen Mitsubishi-Tanabe hat in der Zwischenzeit einen Zulassungsantrag bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA eingereicht. Detailliertere Angaben zum Zulassungsantrag sind noch nicht öffentlich.
Ergebnisse der VITALITY-Studie (Tirasemtiv-Studie Phase 3)
In einer Präsentation durch den Studienleiter Prof. Dr. Jeremy Shefner wurden detailliertere Informationen zu den Ergebnissen der Tirasemtiv-Studie („VITALITY“) vorgestellt. Bereits im Vorfeld hatte das Arzneimittelunternehmen Cytokinetics Inc. in einer Pressemitteilung den negativen Ausgang der Studie veröffentlicht. In der detaillierteren Ergebnisanalyse wurde offensichtlich, dass eine geringe Verträglichkeit des Medikamentes zum negativen Studienergebnis beigetragen hat. 41 % aller Studienteilnehmerinnen haben die Substanz nicht vertragen und vorzeitig die Studie verlassen (Drop-Out). Durch diese hohe Drop-Out- Rate einen Wirksamkeitsnachweis des Medikamentes nicht mehr zuverlässig geführt werden. Eine detaillierte Analyse derjenigen Patienten, die auch höhere Dosen von Tirasemtiv toleriert haben, zeigten einen günstigeren Krankheitsverlauf bei Tirasemtiv – Behandlung im Vergleich zu Placebo. Aufgrund der geringen Patientenanzahl (reduziert durch Drop Out) erreichte der positive Effekt von Tirasemtiv keine statistische Signifikanz. Diese Daten deuten jedoch daraufhin, dass der grundsätzliche therapeutische Ansatz weiterhin erfolgversprechend ist, aber durch die hohe Nebenwirkungsrate begrenzt wurde.
Neue Studie von Cytokinetics
Nach Mitteilung des Unternehmens Cytokinetics wird jetzt eine weitere Studie vorbereitet, in der eine Weiterentwicklung von Tirasemtiv untersucht wird. Das neue Medikament zeigt ein deutlich verbessertes Nebenwirkungsprofil, in dem eine geringere Schwindel-Symptomatik oder andere unerwünschte Effekte im zentralen Nervensystem zu erwarten sind. Die Studie mit der Nachfolgesubstanz von Tirasemtiv ist noch im Jahr 2018 geplant.
Aktueller Stand der ASO-Therapiestrategie
In mehreren Präsentationen wurde das therapeutische Potential von ASO-Molekülen thematisiert. Bei den Anti-Sense-Oligonukleotiden (ASO) handelt es sich um kurze DNA-Molekülstränge, die in der Lage sind, die genetische Information auf dem komplexen Weg vom Gen zur Bildung eines Eiweißes zu verändern. Insbesondere bei der genetischen Form der ALS (familiäre ALS) ist diese Methode von besonderer Relevanz. Das Biotech-Unternehmen IONIS (in Partnerschaft mit dem Unternehmen Biogen Inc.) entwickelt ASO-Medikamente gegen Mutationen im SOD 1-Gen. Für diese Substanz sind Phase 1-Studien bereits abgeschlossen. Der Start größerer Studien mit SOD 1-ASO hat begonnen. Allerdings ist die Anzahl der Patienten sehr gering, die eine SOD 1-Mutation aufweisen und an der klinischen Studie teilnehmen. Häufiger ist die C9ORF72-Mutation (etwa bei 30 bis 40 % aller Menschen mit einer familiären ALS). Die pharmakologische Entwicklung von ASO – Molekülen gegen diese Mutationen wurden begonnen und befinden sich derzeit in der Phase 1. Das Potential von ASO-Medikamenten für die häufigere, nicht-familiäre ALS ist derzeit noch nicht sicher. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass auch bei der nicht-familiären Form der ALS bestimmte genetische Faktoren den Krankheitsverlauf beeinflussen können. So wurde das Ataxin 2-Gen identifiziert, das den ALS-Verlauf verändern kann („modifizierendes“ Gen). Vor diesem Hintergrund wird derzeit ein ASO-Medikament entwickelt, das am Ataxin 2-Mechanismus ansetzt. Diese Arbeiten befinden sich noch in einer experimentellen Phase, so dass noch keine klinische Anwendung möglich ist.
Gemeinsamer Workshop von Patientslikeme (PLM) und Ambulanzpartner
Patientslikeme.com (PLM) ist die weltweit führende Internetplattform für Patienten mit chronischen Erkrankungen. Das Portal wurde im Jahr 2006 von einem amerikanischen ALS-Patienten (Stephen Heywood) und seiner Familie gegründet. Derzeit sind mehr als 150.000 Patienten unterschiedlicher Erkrankungen auf dem Portal registriert, um ihre Medikamente, Behandlungsverfahren, Hilfsmittel und komplementärmedizinische Ansätze zu bewerten. Die strukturierte Erfassung und Bewertung der ALS-Behandlung ist unverändert ein wichtiger Schwerpunkt auf dem PLM-Portal. Bereits seit der Gründung von PLM im Jahr 2006 besteht ein Austausch und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der ALS-Ambulanz der Charité. Die positiven Erfahrungen von PLM in den USA war einer der Faktoren, die im Jahr 2011 zur Gründung von Ambulanzpartner in Deutschland führte (Gründer: Thomas Meyer und Christoph Münch). Seit der Gründung von Ambulanzpartner wurden mehr als 3.800 Menschen mit ALS auf dieser Plattform registriert. Der Schwerpunkt von Ambulanzpartner liegt (im Unterschied zu PLM) bei der Versorgungskoordination von Hilfs- und Heilmitteln sowie Medikamenten. Ein Teilaspekt der Ambulanzpartner-Plattform ist die Bewertung von Medikamenten, Therapien und Hilfsmitteln bei der ALS. An dieser Stelle entsteht eine interessante Übereinstimmung und Möglichkeit der Zusammenarbeit zwischen PLM und Ambulanzpartner. Zur Abstimmung einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit fand am Rande des ALS-Symposiums in Boston ein gemeinsamer Workshop von PLM und Ambulanzpartner statt. Dabei wurde beschlossen, wichtige Daten zur Medikamenten- und Hilfsmittelversorgung zwischen den USA und Deutschland zu vergleichen. Der Vergleich soll dazu beitragen, dass ALS-Zentren und Patienten in Deutschland und in den USA von den Erfahrungen von ALS-Patienten der jeweils anderen Länder profitieren können. Eine erste gemeinsame Datenanalyse ist zum Thema der ALS-Medikamente geplant. So sind zur Behandlung wichtiger ALS-Symptome (Spastik, unerwünschter Speichelfluss, Schmerzen, Atemanstrengung etc.) in beiden Ländern unterschiedliche Medikamente im Einsatz. Diese Unterschiede werden systematisch analysiert und wissenschaftlich publiziert. Weitere Projekte beziehen sich auf die Erfahrungen mit Edaravone und speziellen Hilfsmitteln (z.B. komplexe Rollstuhlversorgung sowie elektronische Kommunikationssysteme). Die „Lerneffekte“, die aus der gemeinsame Datenanalyse von PLM und Ambulanzpartner entstehen, werden über die jeweiligen Internetseiten und über öffentlich zugängliche wissenschaftliche Publikationen verfügbar gemacht. Erste Ergebnisse sind Mitte 2018 zu erwarten.