Seit dem 05. Mai 2017 wurde das Medikament Edaravone unter dem Handelsnamen Radicava in den USA zugelassen. Das Medikament war bereits seit 2015 unter dem Namen Radicut in Japan und Südkorea im Einsatz. Edaravone wurde von der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) bisher noch nicht zugelassen. Ein Zulassungsantrag durch den japanischen Hersteller des Medikamentes, Mitsubishi Tanabe liegt bisher nicht vor.
Trotz einer fehlenden Zulassung von Edaravone in Deutschland ist das Medikament grundsätzlich verfügbar, da Radicut über internationale Apotheken aus Japan importiert werden kann. Weiterhin sind die sozialrechtlichen Bedingungen vorhanden, dass gesetzliche und private Krankenversicherungen die Kosten der Behandlung auf Antragsbasis übernehmen können. Trotz des medizinischen Fortschrittes, der mit der Entwicklung von Edaravone verbunden ist, und der grundsätzlichen Verfügbarkeit des Medikamentes, ist Edaravone nicht für jede ALS-Patientin oder jeden ALS-Patienten geeignet. Edaravone ist ein kompliziertes Medikament, dessen Einsatz eine individuelle Entscheidung notwendig macht. Die Komplexität des Medikamentes wird durch zwei Faktoren bestimmt: 1) Die aktuelle Studienlage zeigt, dass Edaravone nur bei einer Untergruppe von ALS-Patienten wirkt, die bestimmte klinische Merkmale aufweisen. 2) Die Verabreichung ist derzeit nur in Form intravenöser Infusionen in geeigneten Kliniken, Ambulanzen oder Praxen möglich und damit mit entsprechenden zeitlichen und logistischen Aufwendungen verbunden.
Mit der Entwicklung von Edaravone tritt die ALS-Behandlung in eine neue Phase. Während das bisher zugelassene Riluzol für die Gesamtheit der ALS-Patienten (vorbehaltlich einer guten Verträglichkeit) geeignet war, ist bei der Behandlung mit Edaravone eine gezielte Entscheidungsfindung notwendig. Diese Form der Individualisierung von Behandlungsoptionen ist in der Versorgung anderer schwerwiegender Erkrankungen (zum Beispiel in der Behandlung von Krebserkrankungen) schon über lange Zeiträume etabliert. Auch bei onkologischen Erkrankungen erhalten nicht alle Patienten eine einheitliche Therapie, sondern ein individuelles Behandlungskonzept, das sich an der medizinischen Konstellation, der zu erwartenden Wirksamkeit und den persönlichen Behandlungszielen orientiert.
Am 12. Juli 2017 trafen sich Vertreterinnen und Vertreter von führenden ALS-Zentren in Deutschland, um eine Bewertung und Handlungsempfehlung für die Edaravone-Therapie zu erarbeiten. Dabei waren die folgenden ALS-Ambulanzen vertreten: Berlin (Prof. Dr. Thomas Meyer), Bonn (PD Dr. Patrick Weydt), Essen (Dr. Torsten Grehl), Hannover (Prof. Dr. Susanne Petri), Jena (PD Dr. Julian Großkreutz), Mannheim (PD Dr. Joachim Wolf) und Ulm (Prof. Dr. Albert Ludolph). Die Arbeitsgruppe hat die folgende Handlungsempfehlung erstellt, die auf der bisherigen Studienlage und dem aktuellen Erkenntnisstand zu Edaravone beruht.
Edaravone – eine differenzierte Bewertung einer neuen Behandlungsoption bei der ALS
Die ALS ist eine schwere progrediente und fatal verlaufende neurodegenerative Erkrankung. Mit der Zulassung von Riluzol vor mehr als 20 Jahren stand bisher ein krankheitsmodifizierendes Medikament zur Verfügung, das moderate Effekte aufweist. Zusätzlich zum Riluzol besteht ein hoher und dringender medizinischer Bedarf für weitere Behandlungsoptionen bei der ALS.
Im Mai 2017 wurde das Medikament Edaravone zur Behandlung der ALS in den USA zugelassen (Handelsname: Radicava®). Bereits seit 2015 liegt eine Zulassung in Japan und Südkorea vor (Handelsname: Radicut®). Die bisherigen Zulassungen von Edaravone beruhen auf 2 klinischen Studien aus Japan, deren Ergebnisse eine differenzierte Bewertung erfordern.
Nach der bisherigen Studienlage ist Edaravone in der Lage, den Verlauf der ALS zu verlangsamen. Dieser Effekt konnte bisher für eine Untergruppe von ALS-Patienten gezeigt werden, die spezifische klinische Merkmale aufweisen. Für Patienten, bei denen diese Merkmale nicht vorliegen, besteht bisher kein Nachweis für eine Wirksamkeit von Edaravone. Die Betrachtung und Berücksichtigung dieser Studienlage ist für die individuelle Entscheidung einer Edaravone-Behandlung von hoher Bedeutung.
Eine erste klinische Studie von Edaravone bei der ALS (Studie MCI-186-16) zeigte, dass Edaravone in der Gesamtheit von ALS-Patienten nicht wirksam ist. Jedoch konnte in einer Subgruppenanalyse dargestellt werden, dass Edaravone zu einer Krankheitsverlangsamung führen kann, wenn die folgenden klinischen Merkmale vorliegen: Zeichen einer ALS in mindestens 2 Körperregionen nach den internationalen Diagnosekriterien der ALS, Erkrankungsdauer von ≤ 2 Jahren, gute Atemfunktion (Forcierte Vitalkapazität ≥ 80%), geringer bis mittlerer ALS-Schweregrad (mindestens 24 Skalenpunkte des ALS Functional Rating Scale von insgesamt 48 möglichen Skalenpunkten; davon ≥ 2 Skalenpunkte je Subskala) sowie geringe bis mittlere Krankheitsprogression (eine Abnahme von 1 bis 4 Skalenpunkten des ALS Functional Rating Scale im Verlauf von 12 Wochen vor Behandlungsbeginn). Die „ALS Functional Rating Scale“ (ALS-FRSr) ist eine international etablierte Skala zur Erfassung der ALS-Erkrankungsschwere, in der 12 motorische Funktionen (Subskalen) bewertet werden, die typischerweise bei der ALS beeinträchtigt sind.
In einer zweiten klinischen Studie (MCI-186-19) wurden diese genannten Merkmale als Einschlusskriterien zur Studienteilnahme definiert. Diese Studie zeigt in einem Behandlungsverlauf von 24 Wochen eine statistisch-signifikante Verlangsamung der Krankheitsprogression in der Edaravone-Gruppe (n = 68) im Vergleich zur Placebo-Gruppe (n = 66). Die Krankheitsverlangsamung betrug 2,5 Skalenpunkte des ALS-FRSr – in einem Vergleich der Edaravone-Gruppe (ALS-FRSr -5,0) mit der Placebo-Gruppe (ALS-FRSr -7,5). Edaravone bewirkte damit eine Verlangsamung des Funktionsverlustes im Studienzeitraum um etwa 30 % – ermittelt durch die ALS-FRSr-Skala.
Eine therapeutische Wirkung von Edaravone wurde bisher ausschließlich für eine spezielle Untergruppe von ALS-Patienten anhand der ALS-FRSr-Skala nachgewiesen. Ein Effekt auf die Lebenszeit wurde noch nicht untersucht. Weitere klinische Studien sind notwendig, um die Wirksamkeit von Edaravone in der Langzeitbehandlung und in verschiedenen Erkrankungsphasen (z.B. im sehr frühen Krankheitsverlauf) oder anderen Verläufen (z.B. mit einer hohen Progressionsrate) zu untersuchen. Bisher steht Edaravone ausschließlich in einer intravenösen Darreichungsform zur Verfügung, die als Zwischenschritt zur Entwicklung einer oralen Medikation anzusehen ist.
Die Behandlung mit Edaravone erfolgt durch eine intravenöse Infusion in Behandlungszyklen. Ein Behandlungszyklus umfasst 28 Tage. Der Zyklus umfasst 14 Tage, in denen an 10 Tagen Infusionen absolviert werden müssen, sowie 14 Tage einer Behandlungspause. Der erste Behandlungszyklus ist mit Besonderheiten versehen. Hier sind tägliche Infusionen an 14 Tagen vorgesehen. Bei der Erstgabe der Medikation ist eine kontinuierliche Überwachung angezeigt, die in einer tagesklinischen oder stationären Behandlung möglich ist. Durch die kontinuierliche Fortführung der Infusionen ist die Edaravone-Behandlung mit entsprechenden zeitlichen und logistischen Aufwendungen verbunden. Die Wirksamkeit des Medikamentes ist gegenüber den Belastungen, die sich aus den Aufwendungen der Medikamentengabe ergeben, abzuwägen. Die Abwägung erfolgt in Berücksichtigung der individuellen Behandlungsziele und psychosozialen Ressourcen des Patienten. Die Entscheidung zur Behandlung mit Edaravone ist von Fachärzten für Neurologie zu treffen, die sich auf die Behandlung der ALS spezialisiert haben.
Autoren (alphabetisch):
Dr. Torsten Grehl, Essen
PD Dr. Julian Grosskreutz, Jena
PD Dr. Jan Koch, Göttingen
Prof. Dr. Albert Ludolph, Ulm
Prof. Dr. Thomas Meyer, Berlin (federführend)
Prof. Dr. Susanne Petri, Hannover
PD Dr. Patrick Weydt, Bonn
PD Dr. Joachim Wolf, Mannheim