Über die Plattform change.org findet eine Online-Petition für eine vorzeitige Zulassung des Medikaments GM604 („Compassionate Use“) des Unternehmens Genervon statt. Grundlage der Bemühungen für eine vorzeitige Zulassung sind positive Daten aus einer Phase-2-Studie mit GM604 (//www.genervon.com/genervon/about_pressreleases.php).
Phase-2-Studien dienen grundsätzlich der Ermittlung von Verträglichkeit und Machbarkeit eines Medikamentes, wenn eine Substanz (oder ein Behandlungsverfahren) für eine Erkrankung neu eingesetzt wird. In dieser Phase der Medikamentenentwicklung nehmen nur wenige Patienten an der Untersuchung teil. Die statistische Aussagekraft zur Wirksamkeit ist üblicherweise nicht vorhanden. Die Wirksamkeit wird in „sekundären Endpunkten“ untersucht. Bei der ALS bedeutet dies, dass auch in einer Phase-2-Studie der Einfluss des Medikamentes auf die Vitalkapazität und den ALS-Funktionsscore (ALS-FRS) erfasst wird. Die Messung dieser Parameter dient dazu, erste Hinweise auf Wirksamkeitseffekte zu erhalten. Ein tatsächlicher Wirksamkeitsnachweis gelingt in dieser Phase sehr selten.
Es sind Einzelfälle in der Medizin bekannt, dass eine Substanz bereits in der Phase-2-Studie fundamentale Effekte auf den Krankheitsverlauf zeigte (z. B. Rückläufigkeit von Symptomatik oder Stillstand von Progression in der gesamten Probandengruppe). Bei GM604 ist in der Phase-2-Studie ein derartiger Effekt nicht beschrieben worden. Das Unternehmen bezieht sich auf die Behandlung 1 Patienten nach der Phase-2-Studie, der innerhalb weniger Tage nach Medikamenteneinnahme eine funktionelle Verbesserung erlebte, die in der Presseerklärung von Genervon dargestellt wird.
In meiner Einschätzung ist die Datenbasis zu gering, um bereits zu diesem Zeitpunkt auf eine Wirksamkeit der Substanz zu schließen. Grund für die vorsichtige Interpretation der positiven Beschreibungen zu GM604 sind vergleichbare Behandlungsversuche (Vitamin E, Kreatinphosphat, Lithium, Iplex, Stammzellinjektion etc.), die sich nicht reproduzieren ließen. Diese Erfahrung wurde erst im Jahr 2013 durch den negativen Verlauf der Empower-Studie mit dem Medikament Dexpramipexol bekräftigt; Dexpramipexol hatte in der Phase-2-Studie Hinweise auf eine Verlangsamung der Krankheitsprogression und eine positive Beeinflussung des ALS-Funktionsverlaufes (ALS-FRS) gezeigt. In der anschließenden Phase-3-Studie (Empower) ergaben sich keine Hinweise auf Wirksamkeit.
Die Petition für eine unmittelbare Zulassung von GM604 ist aus emotionalen und psychosozialen Gründen nachvollziehbar. Zugleich sind mit einer unmittelbaren Zulassung („Compassionate Use“) verschiedene Probleme verbunden, die von den Zulassungsbehörden abgewogen werden. Das Hauptproblem liegt darin, dass ein Medikament eine breitere Anwendung erfährt, dessen Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil unklar ist.
Die systematische Abfolge von Phase-1- bis Phase-4-Studien ist historisch aus den schweren Nebenwirkungen von Thalidomid (Contergan) entstanden, um verbindliche Maßstäbe für Arzneimittelsicherheit und Wirksamkeitsprüfungen zu erreichen. Beide Ziele (Wirksamkeitsnachweis u. Erfassung des Nebenwirkungsprofils) setzt die Durchführung einer Phase-3-Studie voraus (240-900 Teilnehmer; je nach biometrischer Planung). In meiner Einschätzung sind die vorliegenden Daten zu GM604 noch nicht hinreichend, um von der etablierten Systematik für Arzneimittelentwicklung und Medikamentensicherheit abzuweichen. Bisher ist unklar, wie die amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) auf die Anfrage reagieren wird. Im Fall einer Ablehnung ist damit eine Enttäuschung der Petitionsbefürworter verbunden. Längerfristig wird eine Phase-3-Studie für die ALS-Community jedoch von großem Nutzen sein.
Link der Petition: https://www.change.org/p/food-and-drug-administration-fda-a…