Die therapeutische Wirkung von Vitamin E (alpha-Tocopherol) bei der ALS wurde in einer klinischen Studie untersucht und in der britischen Fachzeitschrift „ALS “ im März 2001 veröffentlicht (Desnuelle und Mitarbeiter). In der Untersuchung von 298 ALS-Patienten erhielt eine Gruppe 1000 mg Vitamin E /Tag, während eine andere Patientengruppe mit einem Placebopräparat behandelt wurde. Die Auswertung zeigte eine diskrete Verlangsamung der Erkrankung im frühen Verlauf der ALS, jedoch keinen Einfluss auf die mittleren und späten Erkrankungsphasen sowie das Überleben der ALS-Patienten. Eine Lebenszeitverlängerung durch Vitamin E in einer Dosis von 1000 mg /Tag konnte damit nicht nachgewiesen werden. Im September 2003 wurde auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie von einer Hochdosisstudie mit 5000 mg Vitamin E/Tag berichtet. Es handelt sich um eine multizentrische und placebokontrollierte Untersuchung in mehreren europäischen ALS-Zentren, die von M. Graf und Mitarbeitern zur Publikation vorbereitet wird. Die vorab mitgeteilten Ergebnisse zeigen auch in der Dosierung von 5000 mg/Tag keinen statistisch signifikanten Einfluss auf das Überleben von ALS-Patienten. Die Verzögerung der Krankheitsprogression in den frühen Stadien der ALS wurde nicht gesondert untersucht. Auf Grundlage der französischen Vitamin E-Studie aus dem Jahre 2001 leitete sich die Empfehlung für eine Vitamin-E-Behandlung mit einer Tagesdosis von 1000 mg ab.
Eine aktuelle Publikation in der internistischen Fachzeitschrift „Annals of Internal Medicine“ von Edgar R. Miller und Mitarbeitern erbrachte statistische Hinweise auf negative Effekte einer Hochdosisbehandlung mit Vitamin E bei einer chronischen Anwendung. Diese Veröffentlichung stellt eine Zusammenfassung von 19 klinischen Studien (Meta-Analyse) aus den Jahren 1966 bis August 2004 dar, in denen die Behandlungsdaten von über 135.000 Patienten verschiedenster internistischer Erkrankungen zusammengefasst werden. Eine Auswertung von 9 Studien mit einer Hochdosisbehandlung (> 400 Einheiten Vitamin E/Tag) zeigte eine Erhöhung der Gesamtsterblichkeit im Vergleich zu unbehandelten Patienten- gruppen von 35 Patienten pro 10.000 Personen. Die Meta-Analyse kommt trotz methodischer Unsicherheiten der Studie zur Schlussfolgerung, dass eine Hoch- dosisbehandlung mit einem erhöhten Langzeitrisiko unerwünschter klinischer Ereignisse verbunden sein kann. Zu betonen ist, dass eine Verallgemeinerung der Untersuchungsergebnisse sehr schwierig ist. Problematisch ist die Zusam- menfassung sehr unterschiedlicher internistischer und neurologischer Krank- heitsbilder. Eine detaillierte Abschätzung des individu- ellen Risikos durch eine Hochdosisbehandlung mit Vitamin E ist auf Basis der Studie nicht möglich. Aufgrund der sehr geringgradigen negativen statistischen Effekte von Vitamin E ist die Sorge einer gesundheitlichen Schädigung durch eine bereits stattgefundene Vitamin E-Behandlung nicht begründet.
In Zusammenfassung des ungesicherten Effektes von Vitamin E auf den Krankheitsverlauf der ALS und der aktuellen Meta-Analyse zur Vitamin E-Hochdosisbehandlung empfehlen wir, auf eine Vitamin E-Behandlung >400 Einheiten/Tag zu verzichten.