Am Nationalen Institut für Gesundheitsforschung in den USA (National Institute of Health; NIH) wurden wichtige Forschungsdaten über eine Ursachenhypothese der ALS veröffentlicht. Die Erkenntnisse wurden durch Dr. Avindra Nath bekanntgegeben, der am NIH eine Arbeitsgruppe zur neurologischen AIDS-Forschung leitet.
Bei der HIV-Infektion und der entstehenden AIDS-Erkrankung kommt es im späteren Krankheitsverlauf zu unterschiedlichen neurologischen Symptomen. Die neurologische AIDS-Forschung war Ausgangspunkt einer spannenden Beobachtung: Einige Patienten mit einer schweren HIV-Infektion zeigten Symptome einer ALS-Erkrankung. Die Behandlung mit der HIV-Medikation führte zu einer Verbesserung der ALS-Symptomatik bei diesen HIV-infizierten Menschen. Bereits im Jahre 2001 hatte es Berichte über den Zusammenhang von HIV und ALS gegeben (ich hatte an dieser Stelle von dieser Korrelation berichtet; s. Archiv – Nachrichtenrubrik).
Zur weiteren Untersuchung eines möglichen Zusammenhangs zwischen ALS und einer Virus-Infektion wurde das genomische Material von ALS-Patienten auf die Einschleusung von Virus-DNA untersucht. Dabei ist bekannt, dass in der Evolution des Menschen genetisches Material von Viren in das menschliche Genom eingeschleust wurde, das bis zu 15% des menschlichen Genoms ausmacht. Durch Experimente am NIH konnte eine spezifischer Abschnitt von Virus-DNA im menschlichen Genom identifiziert werden, das möglicherweise ein Risikofaktor für ALS darstellt: HERV-K (Humen Endogenous Retrovirus-K). In einem tierexperimentellen Ansatz wurde das HERV-K auf Mäuse übertragen, die nach Einschleusung von HERV-K neurologische Symptome einschließlich von ALS-Symptomatik entwickelt haben.
Dabei ist auffällig, dass die Aktivität von HERV-K durch TDP-43 reguliert wird. Für TDP-43 ist seit mehreren Jahren bekannt, dass es ein wesentlicher Bestandteil pathologischer Eiweißablagerungen in motorischen Nervenzellen der ALS darstellt. Damit entsteht eine wichtige Verknüpfung zwischen der Retrovirus-Einschleusung und dem bekannten Wissen zur Morphologie der ALS (TDP-43-Proteinablagerungen). Im Konzept der „Retrovirus-Hypothese“ ist folgendes Szenario denkbar: In der Evolution des Menschen wurde das genetische Material von Retroviren (HERV-K) in das menschliche Genom eingeschleust. Die Integration von Virusmaterial blieb zunächst ohne negative Folgen. Durch Mutationen in HERV-K oder andere Einflussfaktoren (z. B. Mutationen in Genen, die HERV-K kontrollieren) kam es zu einer Reaktivierung von HERV-K und zu einer Ausbreitung des Retrovirus im motorischen Nervensystem.
Die Retrovirus-Hypothese korrespondiert mit einem wichtigen Merkmal der ALS: Die Symptome beginnen an einer Stelle des motorischen Nervensystems und breiten sich von dort auf anatomisch-benachbarte Regionen aus (fokaler Beginn mit anschließender Dissemination). Aufgrund des fokalen Entstehend und des regionalen Ausbreitungsmusters wurden bereits zuvor infektiöse Hypothesen diskutiert (Prion-Hypothese). Das Konzept einer retroviralen Entstehung steht in Übereinstimmung mit dem Wissen zum klinischen Ausbreitungsmuster der ALS. Am NIH (USA) wird derzeit eine Untersuchung zur Viruslast (Konzentration von HERV-K) durchgeführt. Dabei ist zu klären, ob sich eine erhöhte Retrovirus-Konzentration nachweisen lässt. Im positiven Fall kann diese Erkenntnis eine Strategieänderung in der pharmakologischen ALS-Forschung bedeuten. Bei einer Bestätigung der Retrovirus-Hypothese ist die Entwicklung von anti-retroviralen Medikamenten folgerichtig.
Bei der Behandlung von HIV wurde eine Vielzahl von anti-retroviralen Substanzen entwickelt, die sehr erfolgreich eingesetzt werden. Zur Sicherung der Retrovirus-Hypothese ist wichtig, dass andere grundlagenwissenschaftliche Forschungseinrichtungen die Ergebnisse reproduzieren können. Im positiven Fall bedeutet das einen Meilenstein im Grundverständnis der ALS und der Entwicklung einer effektiven Pharmakotherapie.