In der Wochenzeitschrift „Der Spiegel“ vom 27. August 2022 wird das Medikament Jacifusen thematisiert. Jacifusen ist ein genetisches Medikament, das gegen Mutationen im FUS-Gen gerichtet ist. In dem Beitrag von Frank Thadeusz wird von einer jungen Patientin aus Baden-Württemberg, Anna K., berichtet. Anna K. ist an einer ALS erkrankt, die durch eine FUS-Mutation verursacht wird. Die Patientin wird am ALS-Zentrum der Columbia-Universität in New York mit Jacifusen behandelt. Die Therapie mit Jacifusen zeigt positive Effekte, indem die Erkrankung stabilisiert wurde und auch ein Rückgang von ALS-Symptomen berichtet wird. Der Effekt ist für die Patientin selbst und ihre Familie der Anlass zu größter Hoffnung, das Fortschreiten der ALS aufzuhalten oder sogar bestimmte motorische Funktionen zurückzuerlangen.
Der Artikel beschreibt nicht allein einen medizinischen Fortschritt, der auf die genetische Medizin zurückgeht, sondern legt auch den Finger auf Schmerzpunkte der ALS-Therapieforschung in Deutschland.
Der erste Schmerzpunkt betrifft die hohen formalen und regulatorischen Anforderungen bei der Durchführung von klinischen Studien, den Einsatz von nicht zugelassenen Medikamenten sowie der letztendlichen Zulassung von neuen Arzneimitteln. So wird eine aktuelle Studie mit Jacifusen ausschließlich in den USA, Großbritannien, Belgien und den Niederlanden durchgeführt. Deutschland ist bei der Studie nicht dabei. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Leider ist unser Land durch eine Bürokratisierung und Langsamkeit bei der Bearbeitung von Anträgen und Verträgen zurückgefallen. Der zweite Schmerzpunkt liegt in der unzureichenden Finanzierung von Forschung. An dieser Stelle sind uns die USA in zwei Bereichen voraus: Die öffentliche Aufmerksamkeit und Förderung für die ALS sind in den USA enorm. Ganz aktuell wurde der „ALS Act“ (“Accelerating Access to Critical Therapies for ALS Act”) der Biden-Regierung verabschiedet, der eine ALS-Forschungsfinanzierung in Höhe von 100 Millionen USD pro Jahr über fünf Jahre vorsieht. Neben dieser erheblichen öffentlichen Fördersumme existiert in den USA eine aktive Biotech-Unternehmenslandschaft, die sich bereits seit Mitte der 1980er Jahre entwickelt hat. Jacifusen ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung, die aus dem Zusammenspiel von Forschungsfinanzierung und der erwähnten Biotech-Landschaft möglich wurde. In Deutschland waren beide Begriffe, „Gentechnologie“ und „forschende Arzneimittel-Unternehmen“, lange Zeit unbeliebt – hier ist ein Umdenken erforderlich.
Bei der Analyse der ALS-Therapieforschung in Deutschland zeigen sich jedoch nicht nur Schwächen, sondern auch beachtliche Stärken, die der Ausgangspunkt für eine Trendwende sein müssen. Trotz Unterfinanzierung und geringer Wertschätzung leisten in Deutschland über 15 ALS-Zentren – eine beachtliche Anzahl – eine hervorragende Arbeit in der täglichen Behandlung von Menschen mit ALS, aber auch bei der Durchführung von klinischen Studien.
Den deutschen Forschungsnetzwerken ist es gelungen, neue ALS-Gene zu identifizieren und aktuelle genetische Forschungsprojekte mit einer großen Patientenzahl innerhalb kürzester Zeit umzusetzen. Kritisch ist jedoch die Entwicklung neuer Medikamente und biotechnologischer Verfahren.
Zur Überwindung der genannten Schmerzpunkte der ALS-Therapieforschung in Deutschland sind vier wesentliche Ansatzpunkte notwendig: 1) Formale Verfahren und Regularien müssen beschleunigt und vereinfacht werden. Bürokratieabbau ist ein wesentlicher und dringlicher Schritt. 2) Die finanzielle Ausstattung der ALS-Forschung muss erheblich verbessert werden. Die Finanzierung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) müssen deutlich ausgebaut sowie andere Instrumente der öffentlichen Finanzierung aktiviert werden. 3) Die Gründung von Biotech-Unternehmen in Deutschland muss gefördert und vereinfacht werden. 4) Eine Partnerschaft zwischen Betroffenen, Patientenorganisationen, ALS-Zentren, Forschungsmittelgebern, der Biotech-Industrie und Medien muss entwickelt werden, um eine hinreichende Aufmerksamkeit und letztendlich auch die notwendige Finanzierung zu erhalten. Auch hier sind uns die USA um Längen voraus. Eine ehrliche und faire Stärken-Schwächen-Analyse ist ein notwendiger Schritt, um die ALS-Therapieforschung in Deutschland voranzubringen. Das dringliche Ziel besteht darin, Menschen mit ALS, wie Anna K., auch im eigenen Land und aus eigener Kraft eine innovative ALS-Therapie zu ermöglichen.
Autor: Prof. Dr. Thomas Meyer