Im Juni 2022 wurde eine japanische Studie zur hochdosierten Behandlung mit Vitamin B12 (Methylcobalamin) in der US-amerikanischen Fachzeitschrift JAMA publiziert. Hochdosiertes Methylcobalamin – eine aktive Form von Vitamin B12 – hat zuvor in verschiedenen grundlagenwissenschaftlichen und experimentellen Studien eine schützende Wirkung gegen Neurodegeneration gezeigt („Neuroprotektion“). Bei der Studie, die von 2017-2019 an 25 japanischen ALS-Zentren durchgeführt wurde, handelt es sich um eine Phase 2-Studie, in der die Verträglichkeit des Medikamentes bei einer intramuskulären Injektion in einer Dosis von 50 mg zweimal pro Woche untersucht wurde. Zusätzlich wurde als sekundärer Endpunkt die Auswirkung der Behandlung auf die ALS-Funktionsskala analysiert. Insgesamt wurden 129 Patientinnen und Patienten nach dem Zufallsprinzip Methylcobalamin (65 Patienten) oder Placebo (64 Patienten) zugeteilt. Nach 16 Wochen der Therapie zeigte sich in der Behandlungsgruppe mit Methylcobalamin eine Abnahme der ALSFRS-R um 2,66 Punkte im Vergleich zu 4,63 in der Placebogruppe. Bei der Bewertung der ALS-Symptome und ihrer Ausprägung können über die ALSFRS-R insgesamt 48 Punkte erreicht werden. Je niedriger die Punktzahl ausfällt, desto stärker ist die Symptomatik und damit der Verlauf der ALS vorangeschritten (Progressionsrate). Wenn in einem Zeitraum die Punktezahl im Vergleich langsamer abnimmt, so weist dies auf einen langsameren Verlauf der Erkrankung hin. Die Häufigkeit der unerwünschten Ereignisse war in beiden Gruppen ähnlich.
Die Studie wurde an einer ausgewählten Patientengruppe durchgeführt, die folgende Kriterien aufwies: in den zwölf Wochen vor der Aufnahme in die Studie bestand die Verringerung bei der ALSFRS-R zwischen 1 und 2 Punkten. Mit dieser Auswahl wurden Betroffene mit einem langsamen oder besonders schnellen Erkrankungsverlauf ausgeschlossen. Die Atemkapazität betrug über 60 %. Eine Beatmungstherapie war bei der Studie nicht zulässig. Alle Patientinnen und Patienten mussten eine Gehfähigkeit aufweisen. Insgesamt wurde damit die Studie auf Patienten im frühen Krankheitsverlauf beschränkt.
Die Ergebnisse der Studie sind wissenschaftlich interessant und weisen Parallelen zum Therapiekonzept mit dem Medikament Edaravone auf, das ebenfalls in Japan entwickelt wurde. Allerdings ist bei der Interpretation und Bewertung der Studie Zurückhaltung geboten. In Bezug auf die Anzahl der teilnehmenden Patientinnen und Patienten (130 Personen) und die Dauer der Therapie (16 Wochen) sind die statistischen und methodischen Voraussetzungen für eine Aussage bezüglich der Wirksamkeit nicht gegeben. Erst nach Vorliegen der Ergebnisse einer Studie der Phase 3 (mit größerer Patientenzahl und längerer Therapiedauer, meist 52 Wochen) ist eine solide Aussage über die Wirksamkeit eines Arzneimittels bei der ALS möglich. Auf Basis der vorliegenden Daten ist eine Behandlung mit hochdosiertem intramuskulären Vitamin B12 nicht gerechtfertigt.
Bibliografische Angaben der Publikation: Oki R et. Japan Early-Stage Trial of Ultrahigh-Dose Methylcobalamin for ALS (JETALS) Collaborators. Efficacy and Safety of Ultrahigh-Dose Methylcobalamin in Early-Stage Amyotrophic Lateral Sclerosis: A Randomized Clinical Trial. JAMA Neurol. 2022 Jun 1;79(6):575-583. doi: 10.1001/jamaneurol.2022.0901. PMID: 35532908; PMCID: PMC9086935.
Link zu PubMed: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35532908/
Link zur Publikation in der Zeitschrift JAMA: https://jamanetwork.com/journals/jamaneurology/article-abstract/2792228
Autor: Thomas Meyer