Vom 11. bis 14. Juli 2023 fand in Barcelona die Jahrestagung des Europäischen ALS-Netzwerkes statt: ENCALS – European Network to Cure ALS. Die Konferenz dient dem gezielten Austausch zwischen der Grundlagenforschung und der klinischen Forschung. Wissenschaftler aus verschiedenen Laboren in Europa (und anderen Ländern, eischließlich USA) kommen bei dieser Konferenz zusammen, um in den direkten Austausch mit klinischen Forschern zu treten. Durch diesen Austausch sollen Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung einen möglichst effektiven Weg in die klinische Anwendung finden. Bei den grundlagenwissenschaftlichen Arbeiten dominierten in diesem Jahr die folgenden Themen: Proteinablagerungen, experimentelle Modelle zur Reduktion der schädlichen Eiweißablagerungen, veränderte Proteinexpression (Proteomics) Mechanismen der Neurodegeneration, Entzündungsreaktionen (Inflammation), Veränderungen auf Ebene der RNA (Transcriptomics), Fett-Stoffwechsel, genetische Mausmodelle der ALS und experimentelle Therapien auf Ebene von Zell- und Mausmodellen. Auch experimentelle Therapien bei ALS-Patienten wurden vorgestellt.
Besonders beeindruckend war der Vortrag von Prof. Dr. Neil Shneider vom ALS-Zentrum der Columbia University in New York (USA), in dem die ersten Behandlungserfolge der genetischen Therapie von FUS-Mutationen beschrieben wurden. Dabei wurde das grundsätzliche Konzept einer personalisierten Medizin für Menschen mit seltenen Mutationen dargelegt. Aktuell sind neue genetische Medikamente gegen weitere Mutationen, so für das TARDBP-Gen, in Entwicklung. Allerdings wurden auch Rückschläge berichtet. In einem ad-hoc Vortrag von Dr. Michael Tillinger, Wave Life Sciences (USA), wurden die Ergebnisse der WVE-004-Studie vorgestellt, in der Patienten mit den häufigen C9orf72-Mutationen behandelt wurden. Die klinische Studie mit einem Antisense-Oligonukleotid gegen C9orf72-Mutationen hatte keinen therapeutischen Effekt und musste vorzeitig abgebrochen werden. Nach einer analogen Studie des Biotech-Unternehmens Biogen zeigte die negativ verlaufende Studie von Wave Life Sciences die enormen Komplexitäten und bisher ungelösten Herausforderungen bei der Etablierung neuer Therapieverfahren. Eine Anpassung der Therapiestrategie ist jetzt notwendig, um in der Zukunft effektive Therapien gegen C9orf72-bedingte ALS zu entwickeln.
Große Fortschritte konnten in der Behandlung von SOD1-Mutation mit Tofersen berichtet werden. Die Ergebnisse der multizentrischen Studie aus Deutschland wurden von Prof. Dr. Thomas Meyer (Charité) vorgestellt. Deutschland war mit weiteren wichtigen Beiträgen auf dieser Konferenz stark vertreten: Prof. Dr. Paul Lingor (TU München) zur Proteinforschung (Proteomics), Prof. Dr. Johannes Dorst (Universität Ulm) zu metabolischen Veränderungen bei der ALS, Dr. Annekathrin Rödiger (Universität Jena) zu modernen Progressionsmodellen, (die für klinische Studien von entscheidender Bedeutung sind), sowie ein weiterer Vortrag von Prof. Dr. Thomas Meyer (Charité) zur führenden multizentrischen Studie zu Neurofilamenten (NfL) als Progressionsmarker der ALS. Prof. Dr. Susanne Petri (Medizinische Hochschule Hannover) leitete ein Vortragsformat zu molekularen Mechanismen der ALS.
Im Umfeld der Konferenz fanden zahlreiche Treffen („Satelliten-Meetings“) zu laufenden und geplanten klinischen Studien statt. In einem weiteren Satelliten-Meeting wurde die europäische Digitalisierung-Strategie diskutiert. Dabei hat auch die ALS-App eine große Aufmerksamkeit erfahren. ALS-Zentren aus Frankreich, Österreich, der Schweiz und Tschechien haben Interesse an der ALS-App angemeldet. Eine Bereitstellung der App außerhalb von Deutschland ist für Anfang 2024 vorgesehen. In einem weiteren Satelliten-Meeting konnte Dr. André Maier (Charité) von Forschungsprojekten zu Assistenztechnologie, Physiotherapie und therapeutischen Bewegungsgeräten berichten. Auch auf diesem Gebiet bestehen europäische Kooperationsvorhaben, die vor Ort diskutiert wurden.
Am Rande der Konferenz wurden verschiedene Auszeichnungen vergeben. Der Poster-Preis wurde an Teresa Koch vom ALS-Zentrum in Bonn verliehen, zu dem ich gratulieren möchte. Die Arbeitsgruppe rund um PD Dr. Patrick Weydt erforscht die Rolle von Toponin T als Biomarker des zweiten motorischen Neurons bei der ALS. Das ausgezeichnete Poster zeigte einen Zusammenhang zwischen erhöhten Troponin-Werten und einer reduzierten Atemfunktion. Dieser Biomarker hat das Potenzial, bereits frühzeitig Veränderungen von Atemschwäche anzuzeigen.
Autor: Thomas Meyer
ENCALS 2023: https://www.encals.eu/meetings/barcelona/
Programm des Kongresses: https://www.encals.eu/wp-content/uploads/2023/07/programa_DIGITAL_FINAL.pdf
Überblick aller Vorträge: https://www.encals.eu/wp-content/uploads/2023/07/Oral_presentations_0607_desg.pdf
Überblick aller wissenschaftlichen Poster: https://www.encals.eu/wp-content/uploads/2023/07/Posters_0607_design.pdf