Internationaler ALS-Kongress im Dezember 2018 in Glasgow
Der Internationale ALS-Kongress findet einmal im Jahr statt, um Neurologen, Wissenschaftlern, Forschungsverbänden, Selbsthilfeorganisationen sowie forschenden Arzneimittel- und Medizintechnikunternehmen eine Austauschplattform zu bieten. Der Kongress 2018 fand vom 08.-10. Dezember in Glasgow (Schottland) statt. Neben dem wissenschaftlichen Austausch standen Studientreffen im Vordergrund, in denen die Planung über laufende und zukünftige klinische Studien von Pharma- und Biotechnologieunternehmen bekannt gegeben wurden. Der Kongress diente auch der Veröffentlichung eigener Forschungsergebnisse, der Standortbestimmung, kritischen Diskussionen und Anregung für die Weiterentwicklung der Forschungs- und Entwicklungsaufgaben.
Forschungs- und Entwicklungsergebnisse der Charité
Das ALS-Team der Charité war mit dem Ambulanz- und Studienteam sowie mit der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe vertreten. Aktuelle Forschungsergebnisse und Innovationen wurden in einem eingeladenen Vortrag (Plattformpräsentation durch Susanne Spittel, M.Sc.) sowie Poster-Präsentationen veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Dabei wurden die folgenden Themen präsentiert: Edaravone-Therapie in vier deutschen ALS-Zentren (Dr. André Maier); Molekularbiologie zu TDP43 bei der ALS (Dr. Christopher Secker); Nutzeranforderungen für Robotik bei der ALS (Prof. Dr. Christoph Münch); Tetrahydrocannaminol/Cannabidiol THC:CBD-Kohortenstudie bei der ALS (Susanne Spittel, M.Sc.); ALS-Medikamentenmanagement über Ambulanzpartner (Prof. Dr. Thomas Meyer); Versorgungsmanagement (Advance Care Planning) der nicht-invasiven und invasiven Beatmung (Susanne Spittel, M.Sc).
Klinische ALS-Studien von Biogen zu Anti-Sense-Oligonukleotiden (ASO)
In einem Treffen von Studienleitern Europäischer und Amerikanischer ALS-Zentren hat das Unternehmen Biogen (Cambridge, USA) Einblick in das aktuelle Forschungsprogramm gegeben und den Austausch mit den klinischen Experten gesucht. Nach einer erfolgreich abgeschlossenen Phase 1-Studie zum Anti-Sense-Oligonukleotid (ASO) gegen SOD1-Mutationen ist für Ende 2019 der Start einer größeren Studie in den USA und Europa mit dem SOD1-ASO geplant. Vor diesem Hintergrund wird an der Charité und an anderen ALS-Zentren in Deutschland, die am MND-NET-Forschungsnetzwerk teilnehmen die Genotypisierung intensiviert. Darunter ist die genetische Testung von spezifischen Genen zu verstehen, für die eine Assoziation mit der ALS gezeigt wurden. Die Genotypisierung wird prioritär bei ALS-Patienten realisiert, die Hinweise auf eine positive Familienanamnese zur ALS aufweisen und die klinischen Kriterien für eine potentielle Studienteilnahme aufweisen. Neben dem SOD1-ASO-Studienprogramm wurde die Entwicklung eines C9ORF72-ASO dargestellt, der von dem Start Up-Unternehmen IONOsis entwickelt und lizenziert wurde. Die klinischen Studien zum C9ORF72-ASO betrifft eine größere Patientenzahl, da diese Mutation bei ALS-Patienten häufiger vorkommt (40 Prozent aller Patienten mit familiärer ALS). Der Zeitplan zur Durchführung von C9ORF72-ASO-Studie wurde noch nicht veröffentlicht.
Update zu Masitinib
Das französische Arzneimittelunternehmen AB Science hat in einem Treffen führender ALS-Studienzentren zur weiteren Entwicklung des Medikamentes Masitinib Stellung genommen. Nach positiven Daten aus einer Phase 2/3-Studie, die eine Verlangsamung der ALS anhand des ALS-FRS darstellen konnten, wird eine Phase 3-Studie in Europa vorbereitet. Mit dieser Information war das Unternehmen allerdings bereits im Jahr 2017 in die Öffentlichkeit gegangen. In dem genannten Treffen in Glasgow beschrieb der Geschäftsführer von AB Science, Dr. Alain Moussy, die Ambitionen des Herstellers, das Masitinib-Studienprogramm ab dem dritten Quartal 2019 zu beginnen. So verwies er darauf, dass die Finanzierung für eine Phase 3-Studie in Europa (und damit in Deutschland) gesichert sei. Aufgrund der erheblichen Latenzen in der Vergangenheit und der zurückliegenden Diskrepanz zwischen Ankündigung durch die Unternehmensführung und tatsächlicher Umsetzung ist, aus Perspektive der Studienzentren, eine gewisse Zurückhaltung in der Interpretation der Glasgower Erklärung von AB Science geboten.
„Voice Recording“ bei der ALS
Ein weiteres dominierendes Thema auf dem ALS-Kongress in Glasgow war die Zukunftsperspektive für die Durchführung klinischer Studien. Die Wirksamkeit neuer Medikamente und Behandlungsverfahren wird in gegenwärtigen klinischen Studien durch die systematische Analyse motorischer Funktionen, der Atemkapazität (SVC, PCF) und des Körpergewichtes realisiert. Im Vordergrund steht die Analyse des ALS-Schweregrades (und des Verlaufes während der Medikamenten- bzw. Placebobehandlung) während der klinischen Studie. Der ALS-Schweregrad und deren Progression werden anhand der ALS-Funktionsskala (ALS Functional Rating Scale, ALS-FRSr) ermittelt. Dabei werden 12 Körperfunktionen erfasst, die typischerweise im ALS-Krankheitsverlauf beeinflusst werden. Drei von insgesamt 12 Kriterien des ALS-FRS stehen im direkten oder indirekten Zusammenhang mit der Sprechfunktion.
In einer Präsentation von Prof. Dr. Jeremy Shefner (ALS-Zentrum in Phoenix, Arizona, USA) wurde das Konzept des „Voice Recordings“ („Spracherfassung“) vorgestellt. In diesem Konzept wird der Patient oder die Patientin (auf Basis einer Studieneinwilligung) in bestimmten Abständen (zum Beispiel einmal pro Woche) einen definierten Satz in das Mikrofon des eigenen Smartphones zu sprechen, der vom Mobiltelefon aufgezeichnet und über eine sichere Internetverbindung in ein Studienzentrum versendet wird. Durch eine spezialisierte Software lässt sich aus dem Frequenzspektrum der Sprachdatei (Audiosignal) auf eine Einschränkung des Sprechens schließen. Dabei lassen sich durch eine digitale Frequenzanalyse der Audiodaten auch leichte Veränderungen detektieren und quantifizieren, die eine höhere Präzision als die bisherige 5-Stufen Skala im ALS-FRS (0-4 Punkte) ermöglicht. Interessanterweise lassen sich auch mit dieser Methode Einschränkungen der Atemfunktion darstellen, die sich ebenfalls auf das Tempo und Rhythmik der Sprache auswirken. Dabei ist aus der klinischen Medizin bekannt, dass eine Verminderung des Atemvolumens (Hypoventilation) einen Einfluss auf das Sprechvolumen und die Sprechintervalle haben. Mit dem Konzept der telemedizinisch-unterstützten digitalen Sprecherkennung kann eine verbesserte Erfassung der Sprechfunktion und damit assoziierter Körperfunktionen erreicht werden. Durch dieses neue Verfahren kann perspektivisch die ALS-Symptomatik, und damit auch die Wirksamkeit neuer Medikamente, objektiver erfasst werden als bisher durch den ALS-FRS möglich ist.