Mit Beginn im Januar 2006 ist eine Pilotstudie mit dem Medikament Thalidomid an unserer Ambulanz geplant. Seit dem 4. Oktober 2005 liegt ein entsprechender Antrag der Ethikkommission des Landesamtes für Gesundheit und Soziales in Berlin zur Prüfung vor. Am 25. Oktober 2005 erfolgte eine Vorstellung des Vorhabens vor der Ethikkommission, die bis Mitte November 2005 die Studie hinsichtlich ethischer Aspekte überprüft und beurteilt. Gleichzeitig befindet sich der Prüfplan der Thalidomid-Pilotstudie zur Prüfung bei der Bundesoberbehörde, dem Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Die Evaluierung durch die BfArM wird mindestens bis Dezember 2005 erfolgen.
Das Medikament Thalidomid erlangte eine traurige Bekanntheit, da es in den 60-iger Jahren unter dem Handelsnamen Contergan bei schwangeren Frauen schwerste Missbildungen der neugeborenen Kinder verursachte. Im Ergebnis der Contergan-verursachten kindlichen Todesfälle und Missbildungserkrankungen kam es zu einer verständlichen Ächtung des Medikamentes über mehrere Jahrzehnte. Seit wenigen Jahren wird Thalidomid unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen bei bestimmten schwerwiegenden Erkrankungen erneut eingesetzt.
Thalidomid wurde ursprünglich als Schlafmittel (Hypnotikum) entwickelt, jedoch verfügt es über zahlreiche andere pharmakologische Eigenschaften, die jetzt Anwendung finden. Der Haupteinsatz von Thalidomid erfolgt derzeit bei Patienten mit einer schwer behandelbaren Form des Blut- und Knochenkrebses (Multiples Myelom). Bei diesen Patienten kann Thalidomid wesentlich zur Krankheitsverlangsamung beitragen. Unter der Einhaltung eines speziell etablierten Risikominimierungsprogramms werden derzeit 80.000 Menschen mit Thalidomid behandelt, ohne dass bisher die gefürchtete Komplikation einer kindlichen Missbildung aufgetreten ist. Durch die Anwendung von Thalidomid bei Patienten mit dem Multiplen Myelom bestehen umfangreiche Erfahrungen zum Sicherheitsprofil und den pharmakologischen Eigenschaften von Thalidomid.
Der medizinische Hintergrund für die Durchführung einer Thalidomid-Studie bei der ALS besteht in den entzündungshemmenden Eigenschaften dieses Medikamentes. Gleichzeitig ist bekannt, dass bei der ALS deutliche Entzündungsreaktionen in der Umgebung der motorischen Nervenzellen nachweisbar sind. Die inflammatorische Hypothese (Inflammation = Entzündung) bei der ALS besagt, dass die Nervenzelldegeneration aus bisher unbekannten Gründen verursacht wird, aber begleitende Entzündungsreaktionen wesentlich zur eigentlichen Schädigung der motorischen Nervenzellen beitragen. Vor diesem Hintergrund soll untersucht werden, ob entzündungshemmende Medikamente wie Thalidomid eine Verlangsamung oder Reduktion des Nervenzellverlustes bewirken können. Ein Vorteil von Thalidomid besteht darin, dass es potente entzündungshemmende Eigenschaften mit der Fähigkeit eines effektiven Eindringens in das zentrale Nervensystem verbindet.
Die geplante klinische Prüfung ist eine Pilotstudie. Ziel der Untersuchung ist die Überprüfung einer guten Verträglichkeit des Medikamentes in Kombination mit dem bereits zugelassenen Medikament Riluzol bei ALS-Patienten. Zu betonen ist, dass die Pilotstudie keine sichere Aussagen über einen therapeutischen Effekt von Thalidomid bei der ALS liefern kann, da die Untersuchung bei einer sehr geringen Patientenzahl und über einen kurzen Zeitraum von sechs Monaten realisiert wird.
Mit der Pilotstudie soll ein erster Anhalt für die Verträglichkeit und möglicherweise positive Effekte auf den Krankheitsverlauf bei einzelnen Patienten erfasst werden. Im positiven Fall einer hinreichenden Verträglichkeit ist zu einem späteren Zeitpunkt eine Wirksamkeitsstudie für die Dauer von mind. 12 Monaten und einer größeren Patientengruppe vorgesehen.
40 ALS-Patienten können an der Pilotstudie (THL-AL01) teilnehmen. Zu beachten ist, dass THL-ALS01 eine randomisierte Studie darstellt, in der zwei Behandlungsgruppen miteinander verglichen werden. In der Gruppe 1 werden 20 Patienten mit Thalidomid in Kombination mit Riluzol behandelt, während die Gruppe 2 die derzeitige Standardmedikation mit Riluzol ohne weiteres Medikament erhält (Riluzol-Monotherapie).
Die individuelle Zuordnung zur Gruppe 1 oder 2 geschieht durch eine übergeordnete Institution, dem Koordinierungszentrum für Klinische Studien (KKS) in Berlin mit Hilfe eines Zufallsgenerators (Randomisation). Die Einnahme eines Placebo-Medikamentes ist bei dieser Studie nicht vorgesehen.
Die studienteilnehmenden Patienten müssen medizinische Einschlusskriterien erfüllen und werden dann der Randomisierung zugeführt. Vom KKS erhält der Prüfarzt die Information, welcher Behandlungsgruppe (Thalidomid + Riluzol oder Riluzol-Monotherapie) der Patient zugewiesen wurde.
Die vergleichende Untersuchung der geplanten Patientengruppen ist für die Betroffenen und ihre Familien zunächst schwer zu akzeptieren, da jeder Patient die sofortige Behandlung mit der Prüfsubstanz anstrebt. Gleichzeitig ist zu unterstreichen, dass nur durch den systematischen Vergleich der beiden Behandlungsgruppen die Sicherheit und perspektivisch eine Wirksamkeit des neuen Medikamentes ermittelt werden können. Auch mögliche Nebenwirkungen und Risiken lassen sich nur im Vergleich zwischen der Prüfmedikation mit der Standardbehandlung genau feststellen. Das Prinzip der Randomisierung gehört zu den Grundprinzipien der modernen Medizin, da es der Patientensicherheit und effizienten Medikamentenentwicklung dient.
Die Teilnahme an der Studie ist prinzipiell kostenfrei. Durch monatliche Visiten in unserer Ambulanz können jedoch Mehraufwendungen durch Fahrtkosten entstehen, die vom Studienzentrum leider nicht übernommen werden können. Die logistischen, administrativen und personellen Aufwendungen der Studie sind trotz der geringen Patientenzahl erheblich und belaufen sich auf 100.000 Euro. Die Finanzierung der Studie wurde durch Spendenmittel aus der Jörg-Immendorff-Initiative an der Charité ermöglicht. Es handelt sich um eine gemeinsame Spendeninitiative des Künstlers Jörg Immendorff und unserer Ambulanz, der sich mehr als 100 Privatpersonen angeschlossen haben. Das Medikament Thalidomid wird vom Hersteller, der Pharmion Germany GmbH, zur Verfügung gestellt.
Weitere Informationen zu den Details der Studiendurchführung finden Sie in der Rubrik „Therapiestudien“. Die Thalidomid-Verträglichkeitsstudie wurde auf den Internetseiten der Amerikanischen Gesundheitsbehörde, National Institute of Health (NIH) registriert (www.clinicaltrials.gov). Interessierte Patienten können auf diesen Internetseiten die Ein- und Ausschlusskriterien für die Studie einsehen. Bei Interesse an einer möglichen Studienteilnahme ist die Übersendung der medizinischen Unterlagen in Form eines möglichst aktuellen Arztberichtes an die Postadresse unserer Ambulanz der geeignete Weg der Kontaktaufnahme.