Seit Juni 2011 arbeiten die führenden ALS-Zentren in Deutschland im AmbulanzPartner Versorgungsnetzwerk zusammen. Im Mittelpunkt steht die Optimierung der Hilfsmittelversorgung und damit verbundene Versorgungsforschung. AmbulanzPartner (AP) ist ein innovatives Versorgungskonzept, das ein Versorgungsmanagement mit einer digitalen Managementplattform kombiniert. Insgesamt entsteht eine internetunterstützte Versorgungskoordination, die zwei Vorteile liefert: 1) Effizientere Koordination der Hilfsmittelversorgung; 2) Verbesserte Daten für die Versorgungsforschung.
Die aktuelle Publikation wertet die Daten der ALS-Hilfsmittelversorgung im Zeitraum Juni 2011 bis August 2014 aus. Dabei werden die Daten von 1.479 ALS-Patienten an den ALS-Zentren unserer Ambulanz an der Charité sowie der Spezialambulanzen am BG-Klinikum Bergmannsheil in Bochum, dem Universitätsklinikum Jena sowie der medizinischen Hochschule Hannover erfasst. Im Mittelpunkt der Analyse standen zwei typische Probleme der ALS-Hilfsmittelversorgung: Die Ablehnung von Hilfsmitteln sowie die Verzögerung der Hilfsmittelversorgung (Versorgungslatenz). Aus der Vielzahl von ALS-bezogenen Hilfsmitteln wurden vier Hilfsmittelgruppen ausgewählt, die für die ALS-Versorgung eine besondere Bedeutung haben: Orthesen, therapeutische Bewegungsgeräte (Bewegungstrainer), elektronische Kommunikationssysteme (Sprachcomputer) sowie Elektrorollstühle.
Die Studie zeigte, dass die Akzeptanz von Hilfsmitteln für ALS-Betroffene sehr unterschiedlich ist: Die Akzeptanz von Orthesen ist sehr hoch (patientenseitige Ablehnungsrate 5,4 %), während Elektrorollstühle von den Patienten selbst recht häufig abgelehnt werden (patientenseitige Ablehnungsrate 15,6 %). Die hohe Ablehnungsrate von Elektrorollstühlen kann verschieden Gründe haben: So kann die Unterstellungsmöglichkeit – vor allen in städtischen Wohnlagen – eine praktische Limitation sein. Zugleich kommt eine Stigmatisierung durch Hilfsmittel (Befürchtung einer äußeren Wahrnehmung als „Rollstuhlfahrer“) als hemmender Faktor in Frage. Diese Daten sind unerwartet und stellen größere Anforderungen an eine zukünftige Hilfsmittelberatung durch Ärzte und Hilfsmittelversorger. Die praktischen und psychologischen Hindernisse für eine Elektrorollstuhlversorgung müssen in der Zukunft in verbesserter Weise erkannt, adressiert und gelöst werden.
Ein weiterer Grund für eine Nichtversorgung mit Hilfsmitteln war die Ablehnung durch die gesetzlichen oder privaten Krankenversicherungen. Aus der täglichen Praxis ist bekannt, dass die Ablehnungsrate zwischen den einzelnen Krankenkassen sehr unterschiedlich sein kann. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie liefern jetzt erstmalig genaue Vergleichsdaten zwischen den fünf häufigsten gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) sowie der Gesamtheit der privaten Krankenversicherungen (PKV). Entgegen der medialen Berichtserstattung fanden sich keine Hinweise auf eine „2-Klassen-Medizin“ zugunsten der PKV. Ganz im Gegenteil: Die PKV zeigte in der Mehrheit der untersuchten Hilfsmittelgruppen die höchsten Ablehnungsraten. Allerdings zeigten sich „Klassenunterschiede“ zwischen einzelnen GKV. So betrug die Ablehnungsrate von Elektrorollstühlen bei der Techniker Krankenkasse (TK) und der DAK jeweils 18,3 %, während die Ablehnungsrate bei der AOK 41,5 % und der BKK 50,3 % betrug. Diese Daten stellen erstmalig in Deutschland den Vergleich von realen Leistungen von Krankenkassen dar.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis unserer Studie war die Versorgungslatenz – der Zeitraum zwischen der ärztlichen Veranlassung einer Hilfsmittelversorgung (Arzt-Patienten-Gespräch) und der tatsächlichen Lieferung (Inbetriebnahme des Hilfsmittels in der Häuslichkeit des Patienten). Die geringste Versorgungslatenz bestand bei Orthesen (68 Tage), während elektronische Kommunikationshilfen (96 Tage), Bewegungstrainer (113 Tage) und Elektrorollstühle (129 Tage) erhebliche Versorgungslatenzen aufweisen. Diese Verzögerung hat praktische Konsequenzen für die Beratung von ALS-Patienten. Da die Verzögerung von wichtigen ALS-Hilfsmitteln mehrere Monate betragen kann, sollte die Hilfsmittelversorgung nicht erst dann veranlasst werden, wenn der unmittelbare Bedarf besteht, sondern mit einem mehrmonatigen Vorlauf erfolgen. Zukünftige Untersuchungen für ALS-Hilfsmittelversorgung betreffen die Nutzenbewertung von Hilfsmitteln durch die Patienten selbst. Dabei wird erfasst, wie häufig und intensiv Hilfsmittel genutzt werden und wie zufrieden die Patienten mit den jeweiligen Hilfsmitteln sind. Weiterhin werden Vorschläge zur Verbesserung von Hilfsmitteln und Versorgungsabläufen systematisch erfasst, die bei der Weiterentwicklung zukünftiger Hilfsmittel und Medizintechnik berücksichtigt werden.
Eine Zusammenfassung sowie die vollständige Publikation finden Sie bei Springer.