Am 17. Oktober 2021 wurden die Ergebnisse der VALOR-Studie, einer Phase 3-Studie des genetischen ALS-Medikaments Tofersen, veröffentlicht. Tofersen ist für ALS-Patienten vorgesehen, die eine Mutation im Gen der Superoxiddismutase (SOD1) aufweisen. Für etwa 2 % aller Menschen mit ALS sind Mutationen im SOD1-Gen bekannt.
Die Studienergebnisse zeigten einen positiven Trend zur Verlangsamung der ALS durch Tofersen – gemessen an der ALS-Funktionsskale (ALS Functional Rating Scale, ALSFRS-R). Der Unterschied zwischen der Tofersen- und der Plazebogruppe betrug nach 28 Wochen 1,2 Skalenpunkte. Eine statistische Signifikanz der Wirksamkeit, ermittelt durch die ALSFRS-R, wurde innerhalb der Behandlungsdauer nicht erreicht. Gleichzeitig wurde eine Verringerung des Fortschreitens bei mehreren sekundären und explorativen Endpunkten beobachtet (Vitalkapazität; Neurofilament leicht Kette, NF-L; Kraftmessung, SOD1-Protein-Konzentration u.a.). Die VALOR-Studienergebnisse und der laufenden offenen Verlängerungsstudie zeigen außerdem, dass Patienten mit einem frühen Therapiebeginn bessere Ergebnisse erzielten. Die Verträglichkeit von Tofersen war sehr gut.
Das Biotech-Unternehmen Biogen stellte in einer Presseerklärung in Aussicht, mit den regulatorischen Behörden und medizinischen Einrichtungen weitere Schritte in der Entwicklung von Tofersen zu prüfen („Link“ siehe unten). In den USA besteht bereits vor der formalen Zulassung von Tofersen ein „Zugangsprogramm“ (Early Access Program, EAP), um dieses Medikament zugänglich zu machen. Die Etablierung eines EAP in Europa und Deutschland ist noch nicht entschieden.
Die Häufigkeit von SOD1-Mutationen, insbesondere bei Betroffenen, die keine Familiengeschichte einer ALS aufweisen, ist noch nicht systematisch untersucht worden. Zur Identifikation von genetischen Veränderungen im SOD1-Gen sowie den Genen von C9orf72, SOD1, FUS und TARDBP wird eine genetische Studie an verschiedenen ALS-Zentren in Deutschland gestartet („ID-ALS-Studie“).
Über Tofersen:
Tofersen ist ein innovatives Medikament aus der Gruppe der Antisense-Oligonukleotide (ASO), die darauf abzielen, genetische Informationen im Körper des Patienten zu beeinflussen. Bei ALS-Patienten mit Mutationen im Superoxiddismutase (SOD1)-Gen wird durch Tofersen die genetische Information des SOD1-Gens unterdrückt und damit der schädigende Effekt von SOD1-Mutationen reduziert. Tofersen wird einmal im Monat mittels Lumbalpunktion in das „Nervenwasser“ (Liquor cerebrospinalis) appliziert. Tofersen wird durch Biotechnologieunternehmen Biogen (Cambridge, USA) entwickelt.
Über die VALOR-Studie:
In der VALOR-Studie (Phase 3) wurde die Wirksamkeit von Tofersen in einem Behandlungszeitraum von 28 Wochen untersucht. Insgesamt wurden 108 Teilnehmer in die VALOR-Studie randomisiert (n=72 in der Gruppe mit 100mg Tofersen pro Monat und n=36 in der Gruppe mit Placebo). Die primäre Analysepopulation waren ALS-Patienten mit einer höheren Progressionsrate („schneller fortschreitend“). 60 ALS-Patienten erfüllten die im Studienprotokoll definierten Kriterien für ein rasches Fortschreiten der ALS. 48 Teilnehmer erfüllten nicht die Kriterien einer höheren Progressionsrate und wurden als „langsamer fortschreitend“ klassifiziert. Weiterhin wurde eine offene Verlängerungsstudie („open label extension“, OLE) durchgeführt – eine laufende Phase-3-Studie für Teilnehmer, die VALOR abgeschlossen haben. Von den 108 Teilnehmern an der VALOR-Studie nahmen 95 an der OLE teil.
Die Behandlung mit 100 mg Tofersen bewirkte eine Verlangsamung des Krankheitsverlaufes. In der Gruppe der hohen Progressionsrate nahmen die motorischen Funktionen entsprechend der ALS-Funktionsskala (ALSFRS-R) in der Tofersen-Gruppe um 6,98 Skalenpunkte ab, während der Funktionsverlust in der Placebo-Gruppe 8,14 Skalenpunkte betrug (Unterschied von 1,2 Skalenpunkten). In der Gruppe der geringen Progressionsrate zeigte sich in der Tofersen-Gruppe eine Abnahme von 1,33 ALSFRS-R-Skalenpunkten – im Vergleich zu 2,73 Skalenpunkten in der Placebo-Gruppe (Unterschied von 1,4 Skalenpunkte).
Bei einer hohen Progressionsrate zeigte sich in der Plazebo-Gruppe ein 20-% Anstieg in der Serumkonzentration des Biomarkers NF-L, während in der Tofersen-Gruppe eine Abnahme um 40 % gezeigt werden konnte. Damit ergibt sich ein Gesamtunterschied von 60 % im Biomarker NF-L. Weiterhin zeigte sich ein Trend zu Gunsten von Tofersen bei der Messung der Atemfunktion (Slow Vital Capacity, SVC; an 14,3 % Abnahme der SVC in der Tofersen-Gruppe im Vergleich zu 22,2 % Abnahme in der Plazebo-Gruppe) und der Muskelkraft, Hand-Held Dynamometer, HHD). Ähnliche Tendenzen wurden bei mehreren explorativen Ergebnisgrößen („Patient Reported Outcomes“) wie Schweregrad der Erkrankung, Lebensqualität und Müdigkeit beobachtet.
Über genetische Faktoren bei der ALS:
Bei 5 % aller ALS-Patienten sind mehrere Familienmitglieder von ALS betroffen – es liegt eine familiäre (erbliche) ALS vor. Die häufigsten ursächlichen Veränderungen finden sich in den Genen C9orf72, SOD1, FUS und TARDBP. Die Rolle genetischer Faktoren wird noch unterschätzt, da bei mindestens 5 % aller Patienten, die keine Familiengeschichte einer ALS aufweisen, genetische Veränderungen zu vermuten sind. Bereits im Jahr 1993 gelang es, Mutationen im SOD1-Gen nachzuweisen. Während Mutationen im SOD1-Gen am längsten bekannt und erforscht sind, treten Veränderungen in C9orf72 häufiger auf. Die tatsächliche Häufigkeit von kritischen Veränderungen in ALS-Genen, und damit der Anteil an Betroffenen, der von zukünftigen genetischen Therapien profitieren kann, liegt wahrscheinlich bei mindestens 10%. In der Entwicklung forschender Pharma- und Biotechunternehmen befinden sich Medikamente, die auf eine therapeutische Beeinflussung des C9orf72-Gens, aber auch anderer ALS-Gene (FUS und ATXN-2) abzielen. In der Folge #4 des ALS-Podcast wird die Genetik der ALS, einschließlich der genetischen Ursache durch SOD1-Mutationen berichtet: https://youtu.be/gOtthYllBbk
Über die Studie die ID-ALS-Studie
Mit Projektleitung an der Charité und Studienkoordination durch Ambulanzpartner (https://www.ambulanzpartner.de) wird eine Studie zur Identifizierung von genetischen Faktoren an 18 ALS-Zentren in Deutschland gestartet. Dabei ist die Testung der Gene C9orf72, SOD1, FUS und TARDBP bei 1000 Patientinnen und Patienten mit ALS vorgesehen. Die Studie beginnt am 27. Oktober 2021 an der Charité und wird im Verlauf der nächsten Monate schrittweise an verschiedenen ALS-Ambulanzen etabliert.
Autor: Thomas Meyer
Link zur Pressemitteilung von Biogen: https://investors.biogen.com/news-releases/news-release-details/biogen-announces-topline-results-tofersen-phase-3-study-and-its