Die Covid-19-Pandemie stellt unverändert eine Herausforderung für die ambulante Behandlung von Menschen mit ALS und anderen neuromuskulären Erkrankungen dar. Mit einer raschen und konsequenten Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen und der kurzfristigen Schaffung von telemedizinischen Formaten ist es bisher gelungen, die ambulante Versorgung weitgehend aufrecht zu halten. In der Zwischenzeit sind strukturelle Maßnahmen der Charité, der Krankenkassen, von Fachgesellschaften und der eigenen Einrichtung veranlasst worden, die an dieser Stelle (in Auszügen) zusammengefasst werden:
Telemedizinische Behandlung: Eine telefonische Behandlung (ohne Video) wird durch die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen nicht mehr unterstützt. Die telemedizinische Behandlung erfordert eine Videokonsultation. Zur Gewährleistung der Videotelefonie hat die Charité die Video-Sprechstundensoftware von Samedi eingeführt. Ab sofort sind telemedizinische Visiten nur noch über die Samedi-Videosprechstunde möglich. Patienten werden im Vorfeld über die Abläufe informiert. In jedem Fall ist für die Videokonsultation eine stabile Internetverbindung über einen PC mit einem Internetbrowser (bevorzugt Google Chrome) oder ein Smartphone erforderlich. Die Maßnahme der verpflichtenden Videotelefonie (statt eines regulären Telefonates) ist durch die notwendige Patientensicherheit und den medizinischen Datenschutz begründet. Die Gewährleistung von Rezepten und Verordnungen ist davon unabhängig (siehe auch Unterstützung der Hilfsmittel- und Medikamentenversorgung über die Ambulanzpartner-Plattform).
Ambulante Termine in der ALS-Ambulanz: Die Sprechstunde wird mit einem unverändertem Personalbestand (Fachärzte und Koordinatoren) weitergeführt. Geplante Termine werden grundsätzlich aufrecht erhalten. Gegebenenfalls sind Terminverschiebungen um wenige Tage notwendig, um neben den regulären Visiten auch Videovisiten zu ermöglichen. Die Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen einer Präsenz- und Videovisite wird individuell getroffen. Unverändert wird jeder Patient mehrere Tage vor einem Termin kontaktiert, um die geeignete Versorgungsform (ambulante Vorstellung oder Videovisite) zu bestimmen.
Körperliche Untersuchung: Die neurologische Untersuchung wird nur bei Notwendigkeit vollständig durchgeführt (Diagnose- oder behandlungsrelevante Befunderhebung). Grundsätzlich wird auch bei der körperlichen Untersuchung angestrebt, eine Distanz einzuhalten. So ist eine Einschätzung der Lähmungen (Paresen) durch Arm- und Beinvorhalteversuch zumeist ohne unmittelbare Kraftprüfung möglich. Auch die Einschätzung der Zungenbeweglichkeit (im Zusammenhang mit der Schluckprüfung) ist in der Mehrheit der Patienten (zumindest vorübergehend) ohne körperlichen Kontakt aus einer Distanz über 1,5 Meter möglich. Zusätzlich tragen Fachärzte und ALS-Nurses Schutzmasken.
Lungenfunktionsprüfung: Auf die Bestimmung der forcierten Vitalkapazität (SVC) und des Hustenspitzenstoßes (PCF) wird aufgrund unzureichender Verfügbarkeit von Virenfiltern ausgesetzt oder auf Situationen mit einer hohen Dringlichkeit reduziert. (z. B. auf die Entscheidungsfindung einer Beatmungseinleitung). Die Einschätzung einer neuromuskulären Atemschwäche wird in der aktuellen Konstellation auf klinische Kriterien (Atemfrequenz, Atemtiefe und Hustenstoß) konzentriert. Die klinischen Kriterien sind (neben den Messparametern) etablierte Entscheidungskriterien für eine nicht invasive Beatmungstherapie und die Versorgung mit Hustenassistenten, so dass grundsätzlich die Entscheidungsfindung zur Beatmungstherapie auch in dieser Situation möglich ist.
Maskenbeatmung: Die Einleitung einer Maskenbeatmung kann in unterschiedlichen Situationen notwendig werden. Bei einer hochgradigen Atemfunktionsstörung ist die akute Anpassung einer nicht invasiven Beatmungstherapie eine etablierte Therapieoption, die bei etwa 20 Prozent aller ALS-Patienten zum Einsatz kommt. Bei einer akuten Notwendigkeit wird die Maskenbeatmung unabhängig von der Covid-19-Pandemie eingeleitet. Derzeit (Stand: 07. April 2020) sind intensivmedizinische Kapazitäten vorhanden. Diese Einschätzung ist vorbehaltlich einer raschen Änderung der Pandemie-Situation. Bei einer milderen Symptomatik ist die Einleitung einer Maskenbeatmung nicht unmittelbar notwendig. Diese Form der „elektiven“ Einleitung der Beatmungstherapie wird vor dem Hintergrund der Pandemie verschoben.
Anpassung von Hustenassistenten: Die Hustenschwäche stellt ein gesundheitliches Risiko, insbesondere für eine Bronchialverschleimung, Bronchitis und Lungenentzündung dar. Daher sollte bei einer Hustendefizienz die zeitnahe Anpassung eines „Hustenassistenten“ angestrebt werden. Im Gegensatz zur Maskenbeatmung ist ein Hustenassistent auch unter bestimmten Umständen außerhalb des Krankenhauses, während der ambulanten Behandlung, anzupassen. Zu diesem Zweck wird an der Charité ein separater Termin vereinbart, zu dem ein Atmungstherapeut hinzugezogen wird, der das Gerät des Hustenassistenten auf Basis einer ärztlichen Anordnung anpasst. Die Atmungstherapeuten sind mit Schutzausrüstung (FFP2 oder FFP3 Maske) ausgestattet.
Invasive Beatmung: Die Entscheidung einer invasiven Beatmung ist unabhängig von der COVID-19-Pandemie zu treffen. Ein notwendiger Krankenhausaufenthalt zur Anlage eines Luftröhrenschnitts (Tracheostoma) und Realisierung der Beatmungstherapie weist zumeist eine hohe medizinische Dringlichkeit auf und wird trotz der COVID-19-Pandemie durchgeführt. Der Ort und Ablauf der stationären Behandlung wird durch die intensivmedizinischen Kapazitäten an der Charité bestimmt (analoge Situation zur akuten Anpassung einer Maskenbeatmung).
Anlage einer PEG: Die Anlage einer Ernährungssonde wird mit unterschiedlichen Dringlichkeiten vorgenommen. Bei einer geringeren Dringlichkeit wird die PEG-Anlage bis zur Stabilisierung der Pandemie-Situation (und damit verbundener infektiologischer Risiken) aufgeschoben. Bei einer akuten Notwendigkeit einer PEG-Anlage (Verlust der oralen Nahrungsaufnahme oder hochgradiger Gewichtsverlust sowie Gefährdung durch Aspiration) wird die PEG-Anlage durchgeführt. Der Ort und Zeitpunkt der stationären Behandlung für die PEG-Anlage wird durch die konkrete und tagesaktuelle Pandemie-Lage bestimmt.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Maßnahmen und Handlungsrichtlinien der ambulanten Behandlung wiederholten Änderungen und Anpassungen unterliegen, die durch behördliche Festlegungen, Richtlinien der Charité und Arbeitsabläufe im ALS-Teams bestimmt werden. Die Abwägung zwischen den Behandlungsnotwendigkeiten (und den Risiken einer Nicht-Behandlung von ALS-Symptomen) sowie den infektiologischen Risiken steht dabei im Vordergrund. Wir danken den Patienten und ihren Angehörigen für ihre Mitarbeit, das Verständnis und die Mitwirkung in der Umsetzung der sich ändernden Abläufe.
Autor: Thomas Meyer