
Bei der ALS ist die Heterogenität der motorischen Phänotypen ein grundlegendes Merkmal und wird durch drei wesentliche Merkmale bestimmt: die Region des Krankheitsbeginns (“Onset”), die räumliche und zeitliche Ausbreitung (“Propagation”) der motorischen Funktionsstörung vom Ort des Krankheitsbeginns auf andere Körperregionen und die relative Beteiligung der Degeneration des ersten (1. MN) und zweiten (2. MN) Motoneurons. Die verschiedenen ALS-Phänotypen sind mit unterschiedlichen Prognosen und Überlebenszeiten assoziiert.
Bereits in der historischen Beschreibung der ALS wurden verschiedene Phänotypen differenziert und anatomisch definiert. Der erste beschriebene Phänotyp waren die Progressive Muskelatrophie (PMA), ein Phänotyp mit ausschließlicher Betroffenheit des 2. MN, sowie die Primäre Lateralsklerose (PLS), eine Variante mit isolierter Degeneration des 1. MN. Zusätzlich wurden Phänotypen mit einer langsamen Propagation identifiziert, die als Progressive Bulbärparese (PBP), Flail-Arm-Syndrom (FAS), oder Flail-Leg-Syndrom (FLS) bezeichnet wurden. Grundsätzlich wird der spezifische motorische Phänotyp durch die anfängliche Fokalität (Begrenzung der Symptome auf eine isolierte Körperregion) und die anschließende Ausbreitung auf andere Regionen bestimmt. Die klinische Untersuchung ist die hauptsächliche Methode (“Goldstandard”) für die Festlegung des individuellen Phänotyps.
Trotz der Bedeutung der Phänotypen für die individuelle Prognose, die Behandlungsplanung und klinische Studien bestand bisher kein allgemeiner Konsens über die Klassifizierung (oder Benennung) von ALS-Phänotypen. In der Konsequenz sind verschiedene informelle und unstrukturierte Bezeichnungen im Gebrauch. Bei klinischen Studien wurden Phänotypen bisher unzureichend berücksichtigt. Eine standardisierte klinische Beschreibung der motorischen Phänotypen der ALS wurde daher dringend erforderlich.
Von Mai 2023 bis Dezember 2024 wurde ein Expertenkonsens zu den motorischen Phänotypen der ALS durchgeführt. Im Ergebnis wurde eine Klassifizierung der motorischen ALS-Phänotypen entwickelt, die auf den folgenden Kriterien beruht: 1) Region des Auftretens (“Onset”, O), 2) Propagation der motorischen Symptome (P) und 3) der klinischen Beteiligung des ersten (1. MN) oder zweiten (2. MN) Motoneurons. Diese neue Klassifizierung der motorischen ALS-Phänotypen wird als „OPM-Klassifizierung“ bezeichnet.
Mit der OPM-Klassifikation wurde das längerfristige Ziel erreicht, die unterschiedlichen motorischen Phänotypen der ALS zu strukturieren. Damit entstehen drei wesentliche Vorteile. Erstens lässt sich mit den Phänotypen die individuelle Prognose des Krankheitsverlaufes besser vorhersagen, da bestimmte Phänotypen mit einem wesentlich langsameren Krankheitsverlauf verbunden sind. Auch bestimmte Behandlungsmaßnahmen (z. B. Armunterstützungssysteme, komplexe Rollstühle, oder eine Beatmungsversorgung) müssen bei ausgewählten Phänotypen prioritär veranlasst werden. Zweitens haben Phänotypen eine entscheidende Bedeutung bei den Ein- und Ausschlußkriterien für klinischen Studien, da bestimmte Studienmedikamente überwiegend das 1. MN oder 2. MN ansprechen oder auf die Verlangsamung der der Propagation abzielen. Die Phänotypen werden zunehmend relevant, um die klinische Heterogenität von Studienpopulationen zu verringern oder Medikamentenstudien auf bestimmte Phänotypen auszurichten. Ein drittes Argument für die Relevanz der ALS-Phänotypen betrifft die Fokalität und räumliche Ausbreitung der motorischen Defizite – beides sind zentrale Merkmale der ALS, die in der Klassifikation berücksichtigt werden. Sie sind für das genaue Verständnis der ALS und die Entwicklung von Therapiestrategien von entscheidender Bedeutung.
Publikation: https://neurolrespract.biomedcentral.com/articles/10.1186/s42466-025-00389-w
Pubmed: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/40289140/
Über OPM in der NfL-ALS-Studie: Die OPM-Klassifikation wird seit dem 26. April 2025 in der NfL-Studie angewendet. Parallel zur Blutentnahme für die Messung des Biomarkers “Neurofilament light chain” (NfL) wird vom Studienzentrum eine Bestimmung der OPM-Klassifikation vorgenommen und kann dort erfragt werden.
Link zur NfL-ALS-Studie: https://als-charite.de/case-studies/neurofilament-studie-nfl-als/
Über OPM in der Diagnosestellung der ALS: Die Bestimmung des individuellen ALS-Phänotyps gehört zur Diagnosestellung und prognostischen Einschätzung in spezialisierten ALS-Ambulanzen, die eine fachliche Expertise bei besonderen Verlaufsformen der ALS aufweisen:
Link zur Beschreibung der ALS-Phänotypen: https://als-charite.de/amyotrophe-lateralsklerose-ursachen-symptome/
Autor: Thomas Meyer