Am 28. März 2022 wurde in der ALS-Ambulanz der Charité erstmalig eine genetische Therapie bei einer ALS-Patientin durchgeführt. Die Behandlung erfolgte bei einer Patientin, die eine Mutation im Gen der Superoxiddismutase 1 (SOD1) aufweist. Die Therapie bestand in einer Injektion von Tofersen, einem Medikament des Biotech-Unternehmen Biogen. Die Gabe des Medikamentes erfolgte in das Nervenwasser (Liquor) durch eine Lumbalpunktion. Die Therapie wurde ambulant durchgeführt und von der Patientin sehr gut vertragen. Die Behandlung erfordert eine wiederholte Gabe des Medikamentes mit einer Injektion im Abstand von einem Monat.
Die Tofersen-Therapie ist auf Patientinnen und Patienten ausgerichtet, bei denen eine Mutation (krankheitsverursachende genetische Variante) im SOD1-Gen vorliegt. Daher ist diese Therapieoption auf etwa 2 % aller Betroffenen mit ALS begrenzt. In einer klinischen Studie mit Tofersen (VALOR-Studie), die im November 2021 abgeschlossen wurde, konnten verschiedene Verbesserungen im Krankheitsverlauf nachgewiesen werden (positive Beeinflussung der Atemfunktion, deutliche Reduktion des Biomarkers NfL). Eine Verlangsamung der Erkrankung anhand der ALS-Funktionsskala (ALSFRS-R, „primärer Endpunkt“ der Studie) konnte in der genannten Studie nicht gezeigt werden. Trotz dieser Einschränkung hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Behandlung von Patienten mit SOD-1-bedingter ALS im Rahmen eines Härtefallprogramms freigegeben.
Nach dem Start der Tofersen-Behandlung im März 2022 werden noch weitere ALS-Patienten an der Charité, die eine SOD1-Mutation aufweisen, in das Härtefallprogramm aufgenommen. Auch in anderen ALS-Ambulanzen in Deutschland werden entsprechende Therapieprogramme aufgebaut. Die Modalitäten der Behandlung (stationäre Behandlung im Krankenhaus, in einer Tagesklinik oder als ambulante Therapie) sind von den lokalen Bedingungen abhängig und daher an den jeweiligen Ambulanzen und Kliniken unterschiedlich.
Tofersen ist noch nicht zugelassen. Daher ist die Forschung zur Verträglichkeit und Wirksamkeit des Medikamentes von besonderer Bedeutung. Der weitere Therapieverlauf wird engmaschig überwacht und das Arzneimittel bezüglich der Wirksamkeit in verschiedenen Studienprogrammen überprüft. So wird das Ansprechen der Therapie auf den Biomarker NfL in der NfL-ALS-Studie untersucht. Dazu wird im Abstand von einem Monat die Konzentration von NfL in Serum (und bei der Lumbalpunktion zur Therapie auch im Liquor) analysiert.
In der Zulassungsstudie (VALOR-Studie) konnte in der Behandlungszeit von 28 Wochen kein statistisch signifikanter Effekt auf den über die ALS-Funktionsskala (ALSFRS-R) erfassten Krankheitsverlauf nachgewiesen werden. Entlang des Härtefallprogramms wird jetzt über einen längeren Zeitraum der klinische Effekt von Tofersen durch eine kontinuierliche Erfassung der ALSFRS-R dokumentiert. Dazu werden Daten von ALS-Patienten mit Tofersen-Therapie an der Charité (und mehreren anderen ALS-Zentren, die an der id-ALS-Studie teilnehmen) über die ALS-App erhoben. Die Patienten werden eingeladen, im Abstand von einer Woche die 12 Fragen der ALS-Funktionsskala über die ALS-App zu bewerten. Auf diese Weise wird engmaschig überprüft, ob und in welchem Ausmaß eine Stabilisierung der Symptome durch Tofersen bewirkt werden kann. Diese Forschung wird dazu beitragen, eine wissenschaftlich begründete Entscheidung über die Zulassung des Medikamentes zu erreichen. Bei der Entscheidungsfindung durch die US-amerikanische und europäische Zulassungsbehörde (FDA, EMA) sind die Forschungsergebnisse zur ALSFRS-R und zu NfL von großer Relevanz.
Aufgrund der Verfügbarkeit einer Therapie gegen SOD1-Mutationen erhält das Wissen über genetische Mutationen eine besondere therapeutische Relevanz. Auch bei Menschen mit ALS und ohne bekannte Familiengeschichte der Erkrankung können SOD1-Mutationen vorliegen. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei etwa 2 %. Zur Ermittlung dieser genetischen Veränderungen wird derzeit eine umfangreiche Studie mit der Teilnahme von 1.000 ALS-Patienten in Deutschland an mehreren ALS-Zentren durchgeführt (id-ALS-Studie).
Autor: Thomas Meyer
Über die VALOR-Studie:
Am 17. Oktober 2021 wurden die Ergebnisse der VALOR-Studie, einer Phase-3-Studie des genetischen ALS-Medikaments Tofersen, veröffentlicht.
Über Tofersen:
Tofersen ist ein innovatives Medikament aus der Gruppe der Antisense-Oligonukleotide (ASO), die darauf abzielen, genetische Informationen im Körper des Patienten zu beeinflussen. Bei ALS-Patienten mit Mutationen im Superoxiddismutase (SOD1)-Gen wird durch Tofersen die genetische Information des SOD1-Gens unterdrückt und damit der schädigende Effekt von SOD1-Mutationen reduziert. Tofersen wird einmal im Monat mittels Lumbalpunktion in das „Nervenwasser“ (Liquor cerebrospinalis) appliziert. Tofersen wird durch Biotechnologieunternehmen Biogen (Cambridge, USA) entwickelt.
Über die Studie id-ALS:
In Deutschland wird – mit Studienkoordination durch Ambulanzpartner – ein Forschungsprogramm zur Identifikation genetischer Veränderungen bei der ALS durchgeführt (Studie „Id-ALS“). Dabei ist die genetische Testung von 1.000 Patientinnen und Patienten bis Ende 2022 vorgesehen. Patienten, die in einem der registrierten ALS-Studienzentren in Betreuung sind, können an dieser Studie teilnehmen. Das Ziel der Untersuchung besteht darin, genetische Veränderungen bei Menschen mit ALS zu identifizieren, die keine Familiengeschichte einer ALS aufweisen („sporadische ALS“). Betroffene mit einer positiven Familiengeschichte können ebenfalls an der Untersuchung teilnehmen. Diese Studie beruht auf zurückliegenden Forschungsergebnissen, dass bei etwa 10% aller Menschen mit ALS genetische Veränderungen in den Genen SOD1, C9orf72, FUS und TARDBP vorhanden sind. Link zur Studie: https://www.ambulanzpartner.de/studie-id-als/
Über Genetik im ALS-Podcast:
Die Bedeutung genetischer Faktoren bei der ALS sowie deren Relevanz für zukünftige Therapien wurden im ALS-Podcast thematisiert:
- ALS-Podcast #4: Genetik bei der ALS – die Grundlagen mit Prof. Dr. Thomas Meyer (Berlin): https://youtu.be/gOtthYllBbk
- ALS-Podcast #8: ALS-Gene mit Prof. Dr. Jochen Weishaupt (Mannheim): https://youtu.be/sqPRIp4-M14
ALS-Podcast #13: Das Genetische Screening-Programm „Id-ALS“ mit Prof. Dr. Thomas Meyer (Berlin): https://youtu.be/AifmLwd8eBc